Klimawahlen

Europa hat gewählt – genauer gesagt, die Bürger­innen und Bürger der Mitglieds­staaten der EU haben ein gemein­sames Gremium gewählt, das zwar Parla­ment heisst, aber längst nicht alle Kompe­tenzen hat, die man von einem echten Parla­ment erwarten würde. Insbe­sondere wählt es keine Regie­rung und legt kein Regie­rungs­programm fest; es darf nicht einmal eigene Gesetzes­initia­tiven ergreifen. Bei der Zusam­men­setzung dessen, was einer EU-Exe­kutive am Nächsten kommt, der EU-Kom­mis­sion, darf es ledig­lich mitbe­stimmen. Die Personal­vorschläge für den Kom­mis­sions­präsi­denten und die Kommis­sare werden von den natio­nalen Regie­rungen in für die Wähler völlig intrans­parenten Deals ausge­handelt.
Trotzdem sind die Kräfte­verhält­nisse in diesem EU-Parla­ment natür­lich politisch von Bedeu­tung und werden einen erheb­lichen Einfluss auf die EU-Politik in den nächsten fünf Jahren haben.

Aufgrund von Umfragen wurde diese Wahl schon vorher als Klima­wahl bezeichnet, und das Ergebnis wird teil­weise eupho­risch als Grüne Welle gefeiert, die Europa über­rollt habe, auch wenn viele dahinter noch ein Frage­zeichen setzen.
Tatsäch­lich ist mit Blick auf die Ergeb­nisse Ernüch­terung ange­sagt. Zwar ist die bisher domi­nierende und für die völlig unzu­reichende Klima- und Umwelt­politik haupt­verant­wort­liche Grosse Koa­lition aus ‚Europä­ischer Volks­partei‘ und Sozial­demo­kraten deut­lich geschrumpft, aber dazu­gewon­nen haben neben den Grünen vor allem die extrem ‚wirt­schafts­freund­lichen‘ Liberalen, die den grössten Teil der bishe­rigen neolibe­ralen Ex­zesse von Kommis­sion und Parla­ment mitge­tragen haben.
Als positiv muss man wohl sehen, dass inner­halb des rechten Blocks zwar die ultra­rechten und natio­nalis­tisch-autori­tären Gruppen, von denen die meisten auch den menschen-gemachten Klima­wandel leugnen, gestärkt worden sind, dieser Block aber insgesamt bei Weitem hinter den Prog­nosen zurück geblieben ist – das hätte schlimmer kommen können.

Auch die deutschen Wähler haben die regie­rende GroKo für ihre kata­stro­phale Klima­politik deutlich abge­straft. Die CDU hat insbe­sondere bei jüngeren Wählern schlechte Ergeb­nisse erzielt. Warum das so ist, zeigt beispiel­haft die Aus­einander­setzung um das mittler­weile berühmt gewordene Video des sonst eher unpoli­tisch auftre­tenden Youtubers Rezo, in dem er kurz vor der Wahl die Politik der GroKo fast eine Stunde lang massiv kriti­siert hat. Nach pole­mischen Attacken gegen ihn haben über 90 weitere Youtuber (mit Millionen Followern) in einem weiteren (deutlich kürzeren) Video ihre Unter­stützung für diese Kritik erklärt. Die folgen­den Über­legungen der Vorsit­zenden Kramp-Karren­bauer, wie man künftig solche Meinungs­mache unter­binden könnte, hat das Ganze noch verschlim­mert und ein weiteres Indiz dafür geliefert, dass die CDU nach dem Abgang von Frau Merkel noch weiter nach rechts rücken wird.
Die SPD stürzt noch tiefer ab als die CDU und landet hinter den Grünen nur noch auf Platz 3. Das mag einer­seits daran liegen, dass sie für die verfehlte Politik der letzten Jahre mit­verant­wortlich ist, anderer­seits daran, dass sie ein noch deso­lateres Bild nach aussen abgibt. Während sich die SPD-Umwelt­ministerin bemüht, wenigstens ein paar Umwelt- und Kima­schutz-Maß­nahmen voran­zubringen, lässt der SPD-Finanz­minister und Vize­kanzler sie immer wieder gegen die Wand laufen. Und eine frühere Stärke wird der SPD nun zum Verhäng­nis: viele politische Vertreter der alten fossilen Indus­trien Bergbau, Energie und Auto­mobil­industrie tragen noch das SPD-Partei­buch in der Tasche und machen jeden alter­nativen Ansatz, wie er z.B. von den Jusos hin und wieder ent­wickelt wird, gnadenlos nieder. Auch dass ihr europäischer Spitzenkandidat ind den letzten fünf Jahren als ‚Junckers Mann fürs Grobe‘ und oberster Deregulierer aufgetreten ist, trug nicht zur Glaubwürdigkeit bei.
Die AfD hat zwar in ihren Hoch­burgen im Osten weiter zugelegt, stagniert aber im Westen und muss teil­weise sogar Rück­schläge einstecken, so dass sogar ihre Jugend­organi­sation nun darüber grübelt, ob das Leugnen des Klima­wandels wirklich die richtige Taktik ist.

Auf der anderen Seite haben die deutschen Grünen ihr Ergebnis gegen­über der letzten Europa­wahl fast verdop­pelt und sind in vielen Regionen bei den jüngeren Wählern stärkste Partei geworden. Auch in einigen anderen europä­ischen Ländern konnten sie ihre Ergeb­nisse deutlich verbes­sern. Dazu beige­tragen hat sicher der unmit­telbar vor der Wahl durch­geführte Aktions­tag von ‚Fridays for Future‘, an dem zahl­reiche Groß­aktionen in europä­ischen Städten durch­geführt wurden und an dem nach Angaben von Reuters über 1,8 Millionen Menschen welt­weit teilge­nommen haben. Den Linken, die diese Aktionen ebenso unter­stützt haben wie die Grünen, hat das aller­dings nicht geholfen. Sie stag­nieren über­wiegend und haben aufgrund von Sonder­effekten wie in Griechen­land künftig sogar deutlich weniger Sitze im EU-Parla­ment als bisher.
Gute Aussagen im Wahl­programm reichen also offen­sicht­lich nicht, um Wähler zu mobili­sieren. Dass die Linke bei einigen Regierungs­beteili­gungen, wie etwa in Branden­burg oder Berlin, auch eine klima­feind­liche Politik zumindest tole­riert hat (Braun­kohle-Tage­bau hier, Flughafen­ausbau dort), kann ange­sichts der mindestens genauso kritischen Bilanz grüner Regie­rungs­beteili­gungen (etwa in Hessen) auch nicht den Unter­schied machen. Vermut­lich trifft ein Kommen­tator in der italie­nischen Zeitung ‚La Stampa‘ eher den Kern, wenn er über die Grünen sagt: „Sie stellen … einen idealen, nicht-radi­kalen Protest dar, sowohl gegen traditio­nelle Parteien … als auch gegen National­populisten“. Schon Kurt Tucholsky hatte in der Weimarer Republik so erklärt, warum die Sozial­demo­kratie gewählt wird: „Man tut etwas für die Revo­lution und weiss genau: mit dieser Partei kommt sie nicht.“ Auch die Grünen vermit­teln genau diese Botschaft: man tut etwas für den Klima­schutz, aber muss keine radi­kalen Ände­rungen befürchten.
Nach den Wahlen haben alle Parteien ihre Rhetorik angepasst und betonen, wie wichtig der Klima­schutz sei und dass er ab sofort eine wesent­lich grössere Rolle spielen solle. Aussagen zu kon­kreten Ände­rungen in der Politik stehen aber noch aus.

Glück­licher­weise haben die Aktivist­*innen von ‚Fridays for Future‘ darauf die richtige Antwort. Schon bevor die Wahl­ergeb­nisse fest­standen, haben sie einen Aufruf veröffent­licht, am 20. Septem­ber als Auftakt einer Aktions­woche einen weiteren Aktions­tag durchzu­führen, bei dem nicht nur Schüler und Studenten, sondern alle streiken sollen. „Es ist Zeit für uns alle, massen­haften Wider­stand zu leisten – wir haben gezeigt, dass kollek­tive Aktio­nen funktio­nieren. Wir müssen den Druck erhöhen, um sicher­zustellen, dass der Wandel passiert. Und wir müssen ihn gemein­sam beschleu­nigen. … Dies wird nicht der letzte Tag sein, an dem wir auf die Straße ziehen müssen, aber es wird ein neuer Anfang sein.“
In Groß­britannien haben Promi­nente diese Auffor­derung bereits aufge­griffen und einen eigenen Aufruf veröffent­licht. Auch in Deutsch­land weisen immer mehr Menschen, selbst Berater­innen der Bundes­regierung, darauf hin, dass sehr viel mehr pas­sieren muss. Die Wahlen alleine ver­ändern nichts, und ohne radi­kale Verände­rungen wird nichts besser. Die Wider­stände dagegen können nur über­wunden werden, wenn die Aktionen weiter­gehen und noch sehr viel breiter und wirk­samer werden.
Und auch der Kampf gegen das immer weitere Wuchern des Luft­verkehrs und seiner negativen Folgen wie Lärm und Schad­stoff-Belas­tung kann nur erfol­greich sein, wenn er in den Kampf zum Schutz des Klimas inte­griert wird und dadurch eben­falls eine breite Unter­stützung gewinnt.
Quelle: http://www.bi-fluglaerm-raunheim.de/ 29.05.2019 Wir danken dem Autor für die Genehmigung zum Abdruck!